Dienstag, 01. Februar 2022

Brief von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann zur bevorstehenden 3. Synodalversammlung

Foto www.synodalerweg.de

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Speyer,

von 3. bis 5. Februar treffen sich in Frankfurt die Mitglieder des Synodalen Weges zu ihrer Dritten Synodalversammlung. Diese Zusammenkunft steht auch unter dem Eindruck des Missbrauchsgutachtens des Erzbistums München und Freising, in dem das unermessliche Leid hunderter Kinder und Jugendlicher, die grausamen Taten so vieler Priester und kirchlicher Mitarbeiter sowie das eklatante Versagen von Leitungsverantwortlichen beschrieben werden. Fast zeitgleich sind im Rahmen der Initiative #OutInChurch mehr als 100 queere Gläubige an die Öffentlichkeit gegangen und haben in bewegender Weise geschildert, welche leidvollen Erfahrungen sie mit der Kirche gemacht haben und nach wie vor machen. Aus vielen Gesprächen mit Haupt- und Ehrenamtlichen, die ich in den vergangenen Tagen geführt habe, weiß ich, wie fassungslos viele von Ihnen sind, aber auch, wie sehr Sie an Ihrer Kirche leiden und mit Ihrer Kirche hadern. Auch an mir geht das alles nicht spurlos vorbei. Im Gegenteil. Es erschüttert mich zutiefst, diese Kirche, der ich so viel von Kindheit an verdanke und in der ich großartige Menschen, Laien wie auch Amtsträger, kennen lernen durfte, als tief verstrickten Ort verbrecherischer Taten, unsäglichen Leids und unerklärlichen Versagens erleben zu müssen. Und es lastet auf meinem Gewissen die nicht einfache Frage, inwieweit ich, der ich mit so viel Begeisterung und Leidenschaft Priester in dieser Kirche geworden bin, durch falsch verstandenen Gehorsam, durch Wegschauen und Verdrängen, durch fehlende Anteilnahme und Einfühlung mitschuldig an so manchem Leid geworden bin. Mir ist bewusst, wie sehr das Vertrauen in die Kirche und auch insbesondere in das Bischofsamt, einschließlich des Petrusdienstes, erschüttert ist. Dieser Glaubwürdigkeitsverlust geht über die Institution Kirche hinaus bis in den Glauben hinein, den wir verkünden.

All das zeigt mir, in welcher existenziellen Krise sich die katholische Kirche befindet. Sie zeigt sich vor allem im eklatanten Widerspruch von christlicher Botschaft und kirchlicher Realität. Als Kirche sind wir berufen, Zeichen des Heils zu sein – und doch ist in unserer Mitte so viel Gewalt und Unheil geschehen, vor allem von Menschen, die durch ihre Weihe in besonderer Weise für den göttlichen Ursprung und die Heiligkeit der Institution einstehen sollten. Wir folgen Jesus Christus nach, der sich besonders um Kinder und Schwache gesorgt hat – und unsere erste Sorge galt nicht den Betroffenen sexualisierter Gewalt, sondern dem Ansehen der Kirche. Wir rufen im Namen Jesu zu Umkehr und Versöhnung auf – und doch fällt es uns selbst, und das gilt insbesondere für uns Bischöfe, sichtbar schwer, Verantwortung zu übernehmen, eigenes Versagen einzugestehen und um Vergebung zu bitten.

Wir verkünden, dass Gott alle Menschen bedingungslos liebt – und doch haben so viele Menschen in der Kirche tiefgreifende Verletzungen vielfältiger und noch weit über den sexuellen Missbrauch reichender Art erlitten und Ausgrenzung erfahren – bis heute.

Mir wird deshalb immer klarer, dass die Kirche einer radikalen Umkehr und Erneuerung bedarf – und zwar um des Evangeliums Jesu Christi willen. Das hat nichts mit Anpassung an einen „Zeitgeist“ zu tun. Vor allem auch die vielen Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen, die ich in den vergangenen Jahren geführt habe, haben in mir einen Lernprozess ausgelöst. Sie haben mir gezeigt, dass ein fundamentaler Perspektivwechsel notwendig ist, weg von der Institution hin zum Blickwinkel der Betroffenen, den ich mit aller Kraft vorantreiben möchte. Dazu gehört, dass wir das schreckliche Unrecht, das in der Kirche geschehen ist, konsequent und schonungslos aufarbeiten. Dies schließt ausdrücklich auch mein eigenes Leitungshandeln und mögliches persönliches Versagen in den vergangenen 14 Jahren mit ein. Für unser Bistum hat diese wichtige Aufgabe die unabhängige Aufarbeitungskommission übernommen. Zugleich muss es uns darum gehen, die Kirche noch mehr zu einem sicheren Ort umzugestalten, an dem sexueller Missbrauch nicht mehr stattfinden kann. Hierfür leistet der Betroffenenbeirat einen wesentlichen Beitrag, dessen Mitgliedern ich aufrichtig danke. Ihre Erfahrungen
helfen uns, unser Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen und geeignete Schutzkonzepte und Interventionsmechanismen zu entwickeln.

Zur notwendigen radikalen Erneuerung der Kirche gehört für mich aber auch, dass wir uns offen und ehrlich den systemischen Faktoren stellen, die sexuellen Missbrauch in der Kirche begünstigt haben und immer noch begünstigen. Deshalb habe ich mich nach dem Erscheinen der MHG-Studie innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz mit Nachdruck für den Synodalen Weg eingesetzt: Einen Weg, den die Bischöfe und alle Gläubigen in gemeinsamer Verantwortung gehen, auf dem es keine Denkverbote und Tabuisierungen geben darf, und an dessen Ende verbindliche Ergebnisse und echte Reformen stehen müssen. Was wir deshalb brauchen, ist ein anderer Umgang mit Macht und Gewalt, eine Reform der priesterlichen Lebensform, eine viel stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen und den Erkenntnissen der Humanwissenschaften orientierte Sexuallehre, einschließlich einer Neubewertung der Homosexualität, und ein gerechteres Miteinander von Männern und Frauen in der Kirche auf allen ihren Ebenen. All das mit sichtbaren Konsequenzen für die Lehre und Struktur der Kirche, für ihre Verkündigung und Liturgie, für ihre Personalpolitik und ihr Arbeitsrecht usw. Für eine solche Kirche, in der Anspruch und Wirklichkeit möglichst übereinstimmen, setze ich mich aus tiefster Überzeugung ein.

Als Ihr Bischof bitte ich Sie, diesen Weg der Erneuerung der Kirche, der sich am Maßstab des Evangeliums und den in diesem Licht erkannten Zeichen der Zeit orientiert, mitzugehen und mitzutragen.

Er ist verbunden mit dem großen, weltweiten synodalen Prozess, den unser Papst Franziskus für die ganze Kirche vorantreiben will. Wäre die Kirche nur Menschenwerk, hätte sie keinen Bestand. Ich bin aber gewiss, dass Gott die Kirche als die große Gemeinschaft aller, die zu Christus gehören, nicht allein lässt. Das bedeutet aber, dass wir uns mit ganzer Offenheit und dem uneingeschränkten Willen zu mutigen, verändernden Schritten seinem Geist öffnen müssen. Deshalb ist das Gebet so wichtig und die Erfahrung der großen Gebetsgemeinschaft keine Flucht aus der Realität, sondern ganz im Gegenteil der Beginn einer neuen Wirklichkeit. Begleiten Sie bitte die 230  Synodalen, die von 3. bis 5. Februar in Frankfurt zusammenkommen, mit ihrem Gebet. Melden Sie mir in aller Offenheit zurück, wie Sie Kirche erleben und welche Veränderungen Sie sich – auch von mir! – erhoffen, um mich in meiner Leitungsverantwortung zu unterstützen. Sprechen Sie untereinander, gerade auch in den Gremien über die notwendigen Reformen. Und nicht zuletzt: Helfen Sie mit Ihrem konkreten Einsatz vor Ort mit, unserer Kirche ein christusförmigeres und menschenfreundlicheres Antlitz zurückzugeben.

Ich weiß, dass es vielen in der aktuellen Situation schwer fällt, sich in der Kirche und für sie zu engagieren. Ich weiß auch, dass ihnen der Glaube und auch die Gemeinschaft in der Kirche sehr viel bedeuten – und sie gerade deshalb so leiden. Ich bin unendlich dankbar für Sie alle, denen es nicht gleichgültig ist, was mit unserer Kirche geschieht. Dieser wunderbare Schatz des Glaubens, der sich in Ihrem Engagement und in Ihrem Ringen widerspiegelt, ist aller Anstrengung wert.

Mit Gottes Hilfe und Ihrer Unterstützung will ich meine Verantwortung so wahrzunehmen, dass die Vision, die wir für unser Bistum formuliert haben, sich verwirklichen kann und wir „berührt und bewegt von der Menschenfreundlichkeit unseres Gottes Segensort in der Welt“ sind, und Menschen erfahren, dass Jesus Christus, der die Armen und Ausgegrenzten in den Mittelpunkt gestellt hat, „der Maßstab unseres Handelns“ ist. Und dass wir im Vertrauen auf die alles erneuernde Kraft des Geistes Gottes „als synodale Kirche gemeinsam auf dem Weg“ sind, mutig in unserem Engagement für Gerechtigkeit und Frieden, „für unser gemeinsames Haus Erde und für die gleiche Würde und die gleichen Rechte aller Menschen“ (Vision der Diözese Speyer). Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

Mit herzlichen Grüßen bin ich
Ihr
+ Dr. Karl-Heinz Wiesemann
Bischof von Speyer